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ZUR MALEREI VON ANDREA BÜSSING

Zu den Grundstrukturen unseres Bewusstseins scheint es zu gehören, dass wir glauben, die Welt sei so, wie wir sie wahrnehmen. Vermutlich ist dieser Glaube naiv. Zu jeder Wahrnehmung gehört eine Selektion, die bereits im Akt der Aufmerksamkeit liegt: Wir nehmen etwas im engeren Sinne nur dann wahr, wenn wir uns einerseits auf dieses Etwas konzentrieren und damit andererseits alles das ausblenden, was zwar ebenfalls wahrnehmbar wäre, in diesem Moment aber keine Rolle spielt. Es liegt auf der Hand, wie wichtig diese Selektivität der Wahrnehmung ist: Die Welt ist so ungeheuer vielfältig und komplex, dass das Bewusstsein in jedem Moment völlig überfordert wäre, wenn es versuchen würde, „alles“ wahrzunehmen. Deshalb ist das Wahrnehmen durch Schemata gesteuert, die von vornherein filtern, was überhaupt wahrgenommen werden soll und kann. Schemata reduzieren die Überkomplexität der Welt, sie schaffen eine vertraute Ordnung, ein klares Koordinatensystem, in das wir unsere Wahrnehmungen einordnen können, ohne in ihrer verwirrenden Vielfalt die Orientierung zu verlieren. Es liegt auf der Hand, dass tendenziell diejenigen Wahrnehmungen besonders attraktiv zu sein scheinen, die genau diese aus der Erfahrung oder durch gesellschaftliche Einflüsse gewonnenen Schemata bestätigen und befestigen. Vermutlich liegt in dieser Verfestigung auch der Grund, warum nur die Wahrnehmungen, nicht aber die sie steuernden Schemata bewusst werden.

 

So sind Wahrnehmungsschemata zwar ausgesprochen lebensdienlich, aber ihr Preis besteht darin, aus der „wirklichen Welt“ eine „gewohnte Welt“ zu machen. In diesem Kontext könnte man sagen, dass die Malerei Andrea Büssings sich mit dem Versuch auseinandersetzt, den umgekehrten Weg zu machen: nämlich hinter die gewohnte Welt zurückzugehen, um eine Erfahrung mit der wirklichen Welt zu machen. Ihrer Kunst geht es weder darum, ein Abbild der Welt zu schaffen, noch um die Herstellung eines emotionalen Stimmungsraums, in den sich der Betrachter einfühlen oder mit dem er sich identifizieren könnte. Ihre Bilder sind vielmehr durch eine hochgradig intensivierte Dynamik beseelt. Die Pinselstriche werden nicht gezähmt und kultiviert, sie werden nicht transparent, um die sichtbaren Objekte zu präsentieren, sondern sie bleiben als Pinselstriche sichtbar, so dass man sagen kann: das Bild besteht nicht aus visuellen Objekten, sondern aus Pinselstrichen, die sich verdichten und auflockern, die zu Fluten werden und sich zu Flächen ausbreiten, die Leidenschaften enthalten und in Kühle versinken. Die Präsenz des Malvorgangs in den Bildern erzeugt eine dichte Materialität, die Leinwand wird selbst zu einem Stück Materie und dadurch erhält die in Büssings Bildern so präsente Dynamik den Charakter elementarer Kräfte. Oder anders gewendet: Durch den Prozess der Malerei wird etwas sichtbar, was man Natur nennen könnte – Natur nicht im Sinne eines identifizierbaren Abbilds von Pflanzen, Tieren oder Landschaften, sondern Natur im Sinne jener elementaren Kräfte, die das Schöpferische der Natur ausmachen (mit den Begriffen Spinozas also die natura naturans – die schaffende Natur -, nicht die natura naturata – die geschaffene Natur).

So sehr die Dynamik die Bilder Andrea Büssings prägt, so wäre es doch ein Missverständnis, wenn man sie verabsolutieren würde. Zwar sollen die elementaren Kräfte gesteigert und in ihrer Dynamik ungeschönt und ungezähmt sichtbar werden, aber es geht nicht um eine Feier des Wilden und des Archaischen. Die Dynamik wird immer in ein spannungsvolles Verhältnis zu einem gegensätzlichen Prinzip gesetzt, das man das Architektonische nennen könnte. Anders als etwa in den Bildern Jackson Pollocks erhält die Dynamik der malerischen Gestik keine Autonomie, sondern immer bleibt sichtbar, dass die Bilder gebaut, gestuft, organisiert sind. Die Seite der Dynamik wird gezeigt als etwas, dessen innere Tendenz darauf ausgeht, nach Form zu streben und nicht als ungebändigte Kraft stehen zu bleiben. Das Dynamische und das Architektonische wollen zusammengedacht, zusammengebracht werden, keine der beiden Seiten hat in sich selbst seinen Sinn, sondern nur in der Verbindung mit der jeweils anderen. Dynamik, elementare Kräfte, Natur, Architektonik, Form – verbindet man diese Elemente der Bildwelt Andrea Büssings miteinander, so könnte man sagen: Ihre Malerei richtet sich auf den Moment der beginnenden Schöpfung, also auf jenen nur für die künstlerische Imagination zugänglichen Punkt, an dem der Schöpfungsprozess nicht mehr das reine Chaos seines Ursprungs ist, aber noch nicht die feste und somit sichtbare Form eines Produkts angenommen hat. 

Was auf ihren Bildern sichtbar wird, könnte man den elementaren Prozess entstehender Landschaften nennen. Dazu passt die interessante Farbgebung. Es dominieren die beiden „Nicht-Farben“ Schwarz und Weiß, die dann in den Graustufen unterschiedliches Gewicht annehmen und in eisige Hellblaus übergehen. Dazu kommen erdige Brauntöne. Insgesamt eine kühl wirkende Farbgebung, die in einem sehr reizvollen Verhältnis zur Dynamik der Formen stehen. Die Farbgebung dient nicht dazu, einen emotionalen Stimmungsraum zu erzeugen, in den sich der Betrachter einfühlen könnte; ebenso wenig wie das Gestische der Pinselführung dient hier die Farbe nicht dem Wunsch, Subjektivität auszudrücken oder Stimmungen hervorzurufen, in denen Wünsche eines Subjekts Erfüllung finden sollten. Vielmehr dient die Reduktion der Farbigkeit dazu, in der Essenz der Malerei, der Farbe, diejenigen Potenzen zu finden, die dem Beginn des Schöpfungsprozesses, dem Moment des Entstehens aus dem Nichts oder aus dem Chaos, gerecht zu werden. Also in Farben zu malen, die „vor“ den Farben liegen. Dadurch gewinnen dann die seltenen, aber umso intensiver wirkenden Stellen, in denen sich der Pinselgestus in tiefdunkelleuchtendes Rot verdichtet, umso größere visuelle Bedeutung. Sie markieren gewissermaßen die äußersten Möglichkeiten einer Malerei, die ihre Disziplin darin findet, im Übergang zu einer sichtbaren Form, zur gestalteten Welt der Formen und Farben, zu unserer Welt, innezuhalten.

So lebensdienlich und unverzichtbar die Schematisierungen unserer Wahrnehmungen und damit auch unserer Lebenspraxis auch ist, so wichtig ist es, ihr Prinzip der Reduktion, der Vereinfachung und der Fixierung auch wieder aufzubrechen. Schemata sind notwendig, damit es eine fassbare Welt gibt, in der wir handlungsfähig sein können. Schemata werden aber zu einer Verkürzung, zum Erstarren und zum Absterben des gelebten Lebens, wenn ihnen Wirklichkeit und Unumkehrbarkeit zugeschrieben wird. Existenziell ebenso notwendig für den menschlichen Menschen ist daher, wie Andrea Büssings Bilder zeigen, die Kunst, weil die Kunst es vermag, hinter die gestaltete und sichtbare Welt zurückzugehen, um den schöpferischen Prozess ihres Entstehens zu vergegenwärtigen und dadurch in Erinnerung zu halten, dass uns gegeben ist, nicht nur zu sein, sondern zu werden.

Dr. Reinhard Loock, 2021

Das große Format ist für die Bilder von Bedeutung, dabei wird aber auch in den kleinen Entwürfen Monumentalität manifest. Es sind Miniaturen, die nach Größe streben.

Prof. Rainer Mordmüller, 1998

                                        

MIT ERUPTIVEN OBERFLÄCHEN 

Wie Magma durchdringen die schwarzen organischen Stränge die mit Narben, Borken und Furchen übersäte, helle, blau-graue Oberfläche, unterhöhlen diese allmählich. Wie lange kann diese Materie der Urgewalt noch widerstehen? Ebenso beeindruckend wie expressiv nehmen sich die abstrakt-expressionistischen Gemälde und Collagen der Osnabrückerin Andrea Oehler aus, die jetzt im Rahmen einer Ausstellung mit dem Titel Malerei in den Räumen der Vereins- und Westbank zu sehen sind.

Der Betrachter sollte sich Zeit nehmen, die eruptiven Kompositionen der 1971 in Bad Bentheim geborenen Künstlerin zu entdecken. Durch Übermalung des blauen Grundes mit den Nichtfarben Weiß, Grau und Schwarz, durch Farbschichtungen, Verwischungen und Ritzungen haben sich auf der Leinwand verschiedene Ebenen gebildet. Zusätzlich zu den Hell- Dunkel- Kontrasten wird auf diese Weise Tiefe suggeriert. Die Oberfläche erhält so einen bewegten, instabilen Charakter, ihre Flächen scheinen sich in einem zyklischen Prozess immer neu zu definieren.

Auch bei den abstrakten Collagen (...) spielen die Modulationen der Farben, hier stumpfer, erdiger Nuacen, eine entscheidende Rolle. Willkürlich übereinander geklebte kleine Papierstücke werden mit tränenden Lasuren überzogen, an anderer Stelle finden Verwischungen und Kratzspuren, unter denen vereinzelt Zahlen und Paragraphentexte zu entdecken sind.

Eingebettet in diese organische Unordnung büßen die Zahlen und Buchstaben ihre Autorität als Ordnungsprinzipien ein und werden zu Elementen der Komposition, welche die Oberflächenstruktur bereichern.                                                                    

Neue Osnabrücker Zeitung vom 27. 3. 1997

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